Evangelisches Dekanat Vogelsberg

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          Konzert mit Chasan Daniel Kempin in der Alten Synagoge in Kestrich unter dem Eindruck des Terrors

          Wie können wir singen?

          Anders als geplant, doch mitreißend, schön, traurig und zum Lachen: Das Konzert mit Chasan Daniel Kempin war ein großartiger Abschluss der Reihe "Ojfn weg".

           „Ojfn Weg“ – unter diesem Titel hatte im Sommer eine ganze Reihe zum Thema „Jüdisches Leben im Vogelsberg“ stattgefunden, auf die zum Abschlusskonzert mit Chasan Daniel Kempin in der Alten Synagoge in Kestrich vor wenigen Tagen die Organisatoren Claudia Otto und Holger Schäddel (Evangelisches Dekanat Vogelsberg) und Aegidius Kluth (Katholische Erwachsenenbildung Hessen) gemeinsam mit zahlreichen Gästen zurückblickten. Doch zwischen dem ursprünglichen Termin Ende September, der aus Krankheitsgründen entfallen war, und dem jetzigen Nachholtermin lag ein Ereignis, das Menschen auf der ganzen Welt, vor allem aber den Jüdinnen und Juden, den Atem nimmt: Der Terroranschlag der Hamas, unsagbar brutal und menschenverachtend. Er ist eine weitere Zäsur in der jüdischen Geschichte, das „nine-eleven des Staates Israel“ (Daniel Kempin) mit noch nicht absehbaren Folgen. Und so wurde dies ein anderes Konzert als das geplante, eines, das zu Beginn den Terror und den Krieg in Israel und dem Gaza-Streifen aufgriff. „Ojfn Weg“, in der Interpretation des Kantors einer jüdischen Frankfurter Gemeinde, bedeutet in seinem Programm die Geschichte der Juden – von den Anfängen, die in den ersten fünf Büchern Mose, der Tora, beschrieben sind, über eine Geschichte, die geprägt war von Heimatlosigkeit und Verfolgung bis hin zur Staatsgründung Israel, welche ebenfalls keinen Frieden bedeutete.

          Wie bedrohlich die Lage inzwischen geworden ist, wie sich Unsicherheit bis in die hiesigen Dörfer hinein ausbreitet, machte die Notwendigkeit von Polizeischutz vor der Synagoge erschreckend deutlich. „Wie können wir singen“, war dann auch das Lied, das der Sänger und Musiker an diesem Abend für den Anfang ausgewählt hatte, ein Zitat des Psalm 137: „An Wasserflüssen Babylon, da saßen wir mit Schmerzen; als wir gedachten an Zion, da weinten wir von Herzen.“ Mucksmäuschenstill war es in dem alten Bethaus, die Unfassbarkeit, das tiefe Mitgefühl mit Händen zu greifen. Kempin erzählte, wie er und seine Familie den 7. Oktober, der als Simchat Tora, ein Freudenfest für die Tora ist, nutzen wollten, um die Einbringung ihrer Familientora zu feiern. „Doch dann brach am 7. Oktober eine Welt zusammen.“ Und dennoch hätten sie diesen für ihre Familie so bedeutenden Tag begangen, sagte Kempin, „denn auch in Zeiten des Leidens wollen wir feiern.“ Den Terrorakt der Hamas verurteilte der Kantor als „puren Akt der Barbarei, der Schändung und der Unmenschlichkeit, der nichts mit einem Freiheitskampf zu tun hat.“

          Von Anfang an lud Kempin die Gäste seines Konzerts an vielen Stellen zum Mitsingen ein, große Texttafeln ließ er dafür hochhalten und erzeugte damit eine ganz besondere gemeinschaftliche Stimmung. Keinen Tag später als am Tag der Schöpfung begann seine musikalische Geschichtsschreibung in Kestrich – mit „lecha dodi“ hatte er ein Schabbat-Lied ausgewählt, das vermutlich auch in der hiesigen Synagoge gesungen wurde. Es beschrieb den Schabbat als schöne Braut – entsprechend schwungvoll war das Stück, sein Rhythmus verriet große Freude über den Feiertag zum Abschluss der Schöpfung.

          Viele Jahre durch die Zeit reiste Kempin in Kestrich mit seinen Gästen: Mit dem Pessach-Lied „Ki anan Haschem“ feierte er mit ihnen die Befreiung aus ägyptischer Sklaverei. Danach hätten sich die Juden erstmals als Volksgemeinschaft wahrgenommen, erzählte Kempin, im Vertrauen darauf, dass Gott immer mit „ojfn Weg“ sei.

          Anekdotenreich und trotz aller Sorgen mit großer Freude präsentierte Daniel Kempin seine Lieder, die er offenkundig sehr liebt und gerne mit den Menschen teilt. Traditionelle Lieder, kombiniert mit eigenen Kompositionen, spielte und sang der Kantor für sein Publikum, das mit ihm schwelgte, sich mit ihm freute und mit ihm litt. Einen vertonten Psalm Davids brachte er zu Gehör, ein Stück aus dem Buch Esther, Berichte von Festen nach oft wie durch ein Wunder überwundenen Gefahren, ein Lied zum Purim-Fest. Auf Hebräisch und Jiddisch gab Kempin seine Lieder zum Besten, die die Menschen mitnahmen in die Geschichte und die Kultur des jüdischen Volkes. Sie erfuhren, warum Chanukka acht Tage lang gefeiert werden muss und sie lernten die Jüdinnen und Juden als trinkfeste, feierfreudige und sehr witzige Menschen kennen.

          Es wurde deutlich, wie viele jüdische Kulturen in verschiedenen Ländern und verschiedenen Sprachen es gibt, die alle auf das Hebräische zurückgehen – eine weltumspannende Kultur und Religion. Ein Zahlenlied, eine Ballade als Bestandteil des Pessachfestes, präsentierte Kempin den Gästen mit Augenzwinkern und viel Schwung, doch es gab auch Rückblicke auf Pogrome und Verfolgung – Gefahren, denen die Juden weltweit und jahrhundertelang ausgesetzt sind. Die Besucherinnen und Besucher erfuhren einiges über die Herkunft des Jiddischen und die Besonderheiten der Juden, die auch untereinander oftmals nicht einer Meinung sind. Kempin erzählte auch von dem ersten Kibbuz am See Genezareth, dem die hebräische Dichtern Rachel Bluwstein ein literarisches Denkmal setzte.

          Aus der Zeit des Dritten Reiches hatte Kempin nur ein Lied mitgebracht: „mr lebn eybik!“ (Wir leben ewig), den Zuständen im Vilnaer Ghetto zum Trotz entstanden und gesungen, dort an die SS-Leute im Publikum gerichtet, mit dem Wissen, dass die Sängerinnen und Sänger die Zeit nicht überleben würden.

          Auch auf den in Erfüllung gegangen Traum vom eigenen Land im Jahr 1948 ging Kempin musikalisch ein, der mit dem Libanon-Krieg direkt in Gefahr war: „eyn li erets acheret“ – „Ich habe kein anderes Land“ sang der Chasan dazu, ein Lied, das nicht nur vor 75 Jahren gesungen wurde, sondern auch heute, als die Menschen in Israel gegen den Abbau der Demokratie in ihrem Land demonstrierten. Zum Abschluss des Programms erhellte der Künstler sein Publikum noch mit einer Antwort auf die Frage, was es braucht zum Glücklichsein: „abi gezunt“ (Aber gesund) war eine Antwort, Freunde, ein „Schäpsel“, etwas auf dem Kopf, wenn es regnet.

          Die Zugaben machten noch einmal Kempins musikalische und inhaltliche Bandbreite deutlich: „Hallelujah“ von Leonard Cohen – das viele vielleicht zum ersten Mal auch im Wortlaut als spirituelles Lied wahrnahmen – und ein Nachtgebet, in dem alle Engel gebeten wurden, den Menschen zu beschützen. Ein wichtiger Wunsch, wie man weiß.

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