Evangelisches Dekanat Vogelsberg

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          Gedanken zum 9. November

          Wünscht Frieden der Stadt Jerusalem

          Foto: Fundus/Bernecker

          Der diesjährige Gedenktag zur Reichspogromnacht im Jahr 1938 steht ganz unter den Eindrücken der entsetzlichen Geschehnisse in Israel und Gaza. Bei uns im Haus haben sich Dekanin Dr. Dorette Seibert, die Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung und Ökumene Dr. Carolin Braatz und Diakon Holger Schäddel Gedanken zur Situation gemacht und diese zu Papier gebracht.

          Dr. Dorette Seibert:

          Wünscht Frieden der Stadt Jerusalem: "Alle, die dich lieben, sollen friedlich leben. Es herrsche Frieden in deinen Mauern, es herrsche Zufriedenheit in deinen Palästen!" (Psalm 122, 6+7)

          Selten war mir beim Lesen dieser Psalmworte so elend wie in diesen Tagen. Die Diskrepanz zwischen diesem Wunsch nach einem friedvollen Miteinander in Israel und der Realität, die uns, aber vor allen Dingen die Menschen in Israel, am 7. Oktober mit dem terroristischen Überfall der Hamas mit voller Wucht getroffen hat, könnte derzeit kaum größer sein.

          Welche Bedeutung das Land und damit verbunden der Staat Israel für Jüdinnen und Juden neben ihrem Glauben und ihrer Volkszugehörigkeit hat, kann ich als Christin nicht in allen Dimensionen fassen, denn diese Staatsgründung war eine Reaktion auf eine lange Geschichte von Verfolgung und Gewalt gegen das jüdische Volk. Sie reicht zurück bis in die Anfänge unserer Zeitrechnung. Nach der Zerstörung des 2. Tempels in Jerusalem im Jahr 70 nach Christus lebten die Juden über Jahrhunderte in alle Welt verstreut. Immer wieder waren sie Verfolgungen ausgesetzt.

          Unter dem Eindruck eines in Europa zunehmenden Antisemitismus im 19. Jahrhundert entwickelte der Journalist Theodor Herzl die Idee einer Auswanderung aus Europa und der Gründung eines jüdischen Staates zum Schutze aller Jüdinnen und Juden. „Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft aufzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu“, so schreibt er im Jahr 1896.

          Der wachsende Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung kulminierte schließlich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als in ganz Deutschland die überwiegende Mehrzahl der Synagogen zerstört und in Brand gesteckt, Friedhöfe geschändet und jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet wurden. Und auch das war lediglich eine erste Zäsur des Schreckens. Am Ende des 2. Weltkrieges war die brutale Ermordung von 6 Millionen Jüdinnen und Juden zu beklagen.

          Am 14. Mai 1948 wurde Israel offiziell als Staat durch seinen ersten Ministerpräsidenten David Ben Gurion gegründet. Mit dieser Staatsgründung wurde ein sicherer Ort für das jüdische Volk völkerrechtlich verbrieft.

          Das Existenzrecht dieses sicheren Ortes wurde mit dem terroristischen Angriff der Hamas am 7. Oktober grundsätzlich und in einer unbeschreiblichen Brutalität angegriffen und in Frage gestellt.

          Manchen von uns mag das lediglich wie eine weitere Episode des seit der Gründung Israels schwelenden Kampfes zwischen Palästinensern und Israelis erscheinen. Mit meinen Ausführungen möchte ich verdeutlichen, dass dieser Angriff viel grundsätzlicher war. Und dass wir als Christinnen und Christen an diesem Punkt damit auch viel grundsätzlicher gefragt sind, unseren jüdischen Geschwistern beizustehen, Terror zu verurteilen, jeder Art von Antisemitismus entgegenzutreten und eindeutig und unzweifelhaft für das Existenzrecht des Staates Israel einzutreten.

          Wenn wir am kommenden Donnerstag des 9. November 1938 gedenken, machen wir uns unserer Verantwortung gegenüber unseren jüdischen Geschwistern bewusst.

          „Es ist unerträglich, dass auch in Deutschland Juden wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen. Es ist nicht auszuhalten, dass auf deutschen Straßen Menschen die Angriffe der Hamas auf Israel ganz unverhohlen feiern. Terror kann nie ein legitimer Freiheitskampf sein – und jede propalästinensische Veranstaltung wird sich noch eine Weile deutlich vom Angriff der Hamas distanzieren müssen, um nicht den Eindruck zu erwecken, diesen rechtfertigen zu wollen.“ So bewertet Dr. Carolin Braatz – Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung im Evangelischen Dekanat Vogelsberg, die Ereignisse des 7. Oktober und ihre Folgen.

          Holger Schäddel, Diakon und Sozialpädagoge, ergänzt: „Die Jüdinnen und Juden sind für uns Christinnen und Christen religiös gesehen die nächsten Verwandten. Ohne den Juden Jesus und die christliche Gemeindegründung in Bezug auf das Judentum ist kein Christsein, keine Taufe, kein Abendmahl, keine 10 Gebote, kein Neues Testament lebbar. - Und auch das ist ein Merkmal dieses Komplexes: Es ist kaum möglich, einen Punkt zu setzen. Das darf aber nicht dazu führen, dass wir verstummen.“

          Dem kann ich mich uneingeschränkt anschließen und bitte Sie: Bleiben auch Sie im Gespräch: in der Familie und am Arbeitsplatz, im Freundeskreis und in der Gemeinde. Treten Sie Gleichgültigkeit und Radikalisierung gleichermaßen entgegen. Sprechen Sie miteinander, beten Sie miteinander, und wenn Ihnen die Worte fehlen, leihen Sie sich Worte der Psalmen, dem Hoffnungsbuch von Juden und Christen:

          „Wünscht Frieden der Stadt Jerusalem: Alle, die dich lieben, sollen friedlich leben. Es herrsche Frieden in deinen Mauern, es herrsche Zufriedenheit in deinen Palästen! Ich denke an meine Brüder und meine Freunde und spreche zum Abschied: ‚Friede sei mit dir!‘“ (Psalm 122, 6-8)

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          Dr. Carolin Braatz:

          Am 7. Oktober verübte die palästinensische Terror-Organisation Hamas einen Angriff aus dem Gazastreifen heraus auf die israelische Zivilbevölkerung. Dabei wurden über 220 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, etwa Menschen in einem Kibbuz getötet, Menschen brutal verstümmelt, sogar Babys enthauptet.

          Dieser Angriff ist entschieden zu verurteilen und als das zu benennen, was er ist: als Terrorangriff und nicht als palästinensischer Freiheitskampf.

          Während bei dramatischen Ereignissen innerhalb der westlichen Welt, insbesondere bei Anschlägen und Angriffen, die mediale Betroffenheit in der Regel sehr hoch ist, geschah klare Positionierung und ausgedrückte Solidarität in diesem Fall deutlich zurückhaltender. Das gilt sowohl für Privatpersonen als auch für Institutionen.

          Warum ist das so? Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Eine Rolle spielt wahrscheinlich, dass der Angriff zwar in einem westlich orientieren Staat stattgefunden hat, aber eben doch nicht mitten in Europa. Viele Menschen in Deutschland fühlen sich deshalb nicht direkt betroffen fühlen. Angesichts der Fülle von Krisen in der Welt blendet man aus, was ausreichend weit weg ist.

          Als engagierter –  und zugleich dramatischer – empfinde ich den „Ja, aber …“-Grund: Während der Angriff auf die Ukraine trotz vorhergehender Besetzung der Krim sehr überraschend kam und die meisten von uns Russland klar als den Aggressor sehen, dürfte vielen Menschen bewusst sein, dass die Lage in Israel komplex ist. Das Gebiet des heutigen Israels und die Palästinensergebiete waren nicht nur in den letzten Jahrzehnten immer wieder Gegenstand von Kämpfen und Vertreibungen verschiedener Religions- und Volksgruppen. Da fällt der Durchblick wirklich nicht leicht. Siedlungsbau und Justizreform haben weder dem Staat Israel noch Ministerpräsident Netanyahu in den letzten Jahren Sympathiepunkte eingebracht. Wirklich, ich würdige es, wenn jemand sich angesichts komplexer Sachlagen nicht auf eine Seite schlagen will. Und ja, es gibt gute Gründe, sich für die Rechte von Palästinensern stark zu machen. Einen dramatischen Fehler begeht man aber meiner Einschätzung nach, wenn man diese Ebenen vermischt. Es darf nicht passieren, dass das „Ja, ich finde den Angriff auf Israel schlimm“ abgeschwächt oder gar gerechtfertigt wird durch ein „ … aber Israel unterdrückt ja auch die Palästinenser“. Die Hamas ist keine Organisation, die sich für die Freiheit der Palästinenser einsetzt, sondern eine Terrororganisation. Sie hat die Auslöschung Israels zum Ziel. Rücksicht auf die eigene Bevölkerung nimmt sie dabei nicht, sondern hat ihre militärischen Stützpunkte und Waffenlager inmitten der Zivilbevölkerung. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn von zivilen Opfern israelischer Reaktionen die Rede ist.

          Die Bedrohungslage für Juden ist in den letzten Wochen weltweit deutlich angestiegen. Aber schon vorher habe ich durch Kontakte in verschiedene jüdische Gemeinden gelernt: Juden fühlen sich in der Welt nirgendwo absolut sicher. Jüdische Kinder gehen in Deutschland  mehrheitlich in jüdische Kindergärten und Schulen, die genauso wie die Synagogen umzäunt und von Polizei bewacht werden. Angriffe auf Synagogen gibt es immer wieder, jüdischen Männern wird geraten, nicht sichtbar mit der Kippa, der jüdischen Kopfbedeckung, in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein, sondern sie unter einer Baseball-Kappe zu verbergen. Israel wird als ultimativer Rückzugsort betrachtet und als solcher unbedingt verteidigt. Ich bin froh, dass die deutsche Bundesregierung trotz aller Komplexität hinter der Existenzberechtigung Israels als Staat steht.

          Es ist unerträglich, dass auch in Deutschland Juden wieder Angst um ihre Sicherheit haben müssen. Es ist nicht auszuhalten, dass auf deutschen Straßen Menschen die Angriffe der Hamas auf Israel ganz unverhohlen gefeiert haben. Terror kann nie ein legitimer Freiheitskampf sein – und jede pro-palästinensische Veranstaltung wird sich noch eine Weile deutlich vom Angriff der Hamas distanzieren müssen, um nicht den Eindruck zu erwecken, diesen rechtfertigen zu wollen.

          Man muss nicht die ganze Komplexität der israelisch-palästinensischen Beziehungen verstehen, um sich eine Haltung in Bezug auf antisemitische Übergriffe zu bilden. In einem Land, das stark durch Einwanderung geprägt ist, ist es wichtig, Position zu beziehen. Am besten nicht erst da, wo Menschen aufgrund ihrer religiösen oder nationalen Zugehörigkeit diskriminiert oder bedroht werden. Besser immer schon dann, wo Meinungsbildung stattfindet und sich entscheidet, wohin sich die Grenzen des Sagbaren verschieben.

          Zum Hintergrund meiner Einordnung:

          Ich bin dankbar, dass eine Reise im Rahmen meines Studiums unsere Reisegruppe auch nach Betlehem geführt hat und uns in Kontakt gebracht hat mit Palästinensern, die eigentlich in Sichtweite von Jerusalem leben. Eigentlich, denn sie sind durch eine Mauer abgetrennt und dürfen nur zu bestimmten Anlässen und religiösen Feiertagen durch den Checkpoint ausreisen. Palästinensische Christen sind hierbei übrigens deutlich schlechter gestellt als Muslime. Letztere dürfen jeden Freitag nach Jerusalem, also aus dem abgetrennten Gebiet, reisen – Christen nur zu wenigen christlichen Feiertagen. Medizinische Notfälle werden nach Jerusalem gefahren und am Checkpoint in einen anderen Rettungswagen umgeladen. Das klingt unmenschlich, ist aber eine Reaktion darauf, dass es einen Anschlag gab, der mittels eines durchgelassenen Rettungswagens verübt wurde. Es ist also im Grunde wie der Mauerbau Schutz vor der Gewalt einiger Radikaler, unter der aber die gesamte palästinensische Bevölkerung leidet.

          Ich habe aber auch einen besonderen Bezug zu den Menschen in Israel. Meine Eltern wollten nicht tatenlos mit ansehen, wie im Golfkrieg in Israels Babys stundenlang in Sauerstoffzelten abgelegt wurden, um sie vor den Giftgasangriffen zu schützen. Daraufhin haben wir für einige Wochen unser Haus und unseren Alltag mit einer Mutter und ihren drei Kindern aus Israel geteilt, zu denen wir noch sporadisch Kontakt haben.

          Und nicht zuletzt sehe ich mich sowohl als Deutsch in historischer Verantwortung, Position für den Schutz jüdischer Menschen zu beziehen, als auch als Christin in tiefer Verbundenheit mit Jüdinnen und Juden als Volk, dem Gott bleibende Treue versprochen hat.

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          Holger Schäddel:

          a.)

          Ein jüdischer Künstler aus Hessen sagte mir vor einigen Tagen zur Gesamt-Situation in Nah-Ost: „Realitäten prallen aufeinander, die schwer auszuhalten sind“

          Das ist die existentielle Wahrnehmung eines jüdischen Mitbürgers in Deutschland,der in der jüdischen Community auch viel rumkommt.

          Er war auch wirklich dankbar, dass ich ihn ausdrücklich nach seinem Befindengefragt habe zum aktuellen Komplex Israel-Gaza. Und dann hat er viel erzählt von Erschütterung, Irritation, Sorge, Wut, usw.

          b.)

          Ich selbst bin hin- und her-gerissen.

          In Gesprächen mit Kolleg:innen, Freunden und Verwandtschaft habe ich folgende Eindrücke:

          • Gemäßigte und potentielle Brückenbauer auf beiden Seiten werden radikalisiert bzw. radikalisieren sich selbst – aus der jeweiligen Perspektive in Teilen auchnachvollziehbar, wenn auch schmerzhaft.

          • Wie seit Jahrzehnten wird auch jetzt medial alles eingesetzt: leidende Kinder, traumatisierte Familien,brutalste Gewaltanwendungen, usw. – mit dem Effekt der Emotionalisierung.

            Aber: Es wäre schlimm, wenn wir/ich nicht mehr berührt werden würden.
            Und: Die Situation – hier wie  dort – ist unfassbar dramatisch.

          • Politisch kritisiere ich auch die sogenannte Arabische Liga für deren Stellvertreter-Kriegführen-Lassen über die palästinensische Seite.Von Jordanien und Libanon abgesehen haben viele arabisch bzw. muslimisch geprägte Staaten jahrelang kaum bis wenig konkrete strukturpolitische Unterstützung und Geflüchteten-Hilfe für Menschen aus den Palästinensischen Autonomiegebieten geleistet.

            Aber: Die dort vorhandene, bisweilen identifikatorische Israel-Kritik wird laut beschworen.

          • Das Existenzrecht des Staates Israel darf nicht angerührt werden, im Gegenteil –Es ist unmissverständlich zu verteidigen und sein Recht ist nachhaltig zu bekräftigen.

          • Die einseitig patriotische Siedlungspolitik und in Teilen die Besatzungspolitik des Staates Israel in den palästinensischen Gebieten darf kritisiert werden. Ich tue das ausdrücklich.

          • Die Jüdinnen und Juden sind für uns Christen religiös gesehen die nächsten Verwandten. Ohne den Juden Jesus und die christliche Gemeinde-Gründung in Bezug auf das Judentum ist kein Christsein, keine Taufe, kein Abendmahl, keine 10 Gebote, kein Neues Testament christlich lebbar.

          • Schließlich: Ich unterbreche meine eigenen Gedanken – aber ich könnte noch viel mehr schreiben. Und auch das ist ein Merkmal dieses Komplexes: Es ist kaum möglich, einen Punkt zu setzen. Das darf aber nicht dazu führen, im Austausch zu verstummen.

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